MUSIKFAMILIE SCHÖNHERR AUS MARBURG

 

Die Südbahn-Werkstätten waren die erste auf moderne Art geführte große Fabrik in Marburg, wo sich auch die Belegschaft nach sozialdemokratischen Grundsätzen organisierte. Dazu gehörte auch das Kulturleben und so wurde 1865 der Chor "Südbahn-Liedertafel" und 1869 die Blaskapelle "Südbahn-Werkstätten-Kapelle" gegründet. Mitglieder beider Musikgruppen waren ehemalige Militärmusiker und auch der Leiter beider Ensembles, der in Marburg geborene Franz Schönherr (1821-1886), war einer von ihnen, in der Fabrik Spengler, und davor Stellvertreter des Kapellmeisters der oberstlichen Kapelle. Sie probten im Kreuzhof in Brunndorf, der zusammen mit der Eisenbahnerkolonie als Kulturzentrum des rechten Drau Ufers galt.

Eisenbahnkolonie, Siedlung in Brunndorf

Der Vater Schönherr sorgte für eine hervorragende Musikbildung seiner drei Söhne: Max wurde sein Nachfolger bei der Kapelle, Franz wurde 1887 Geigenlehrer beim Philharmonischen Verein und Autor einer erweiterten Geigenschule in fünf Bänden, und Raimund war Oberst der Pioniere und Komponist.

Max Schönherr (1873-1955) übernahm die Kapelle 1898 und erreichte mit ihr bereits 1906 den ersten Platz in der Monarchie. Er war eine zentrale Persönlichkeit des Marburger Musiklebens – Musiklehrer, Violist in Kammerensembles und ordentlicher Dirigent des Philharmonie Orchesters. Er „taufte“ am 28. Januar 1911 den großen Götz’schen (heute Union-) Konzertsaal, einen Monat danach dirigierte er dort auch das erste sinfonische Konzert. Er verstand sich hervorragend mit Jože Trofenik, Hinko Druzovič und Emerik Beran, mit denen er mehrere vielbeachtete Konzerte durchführte.

Max Schönherr (1873-1955)

Ende des 1. Weltkriegs hatte es zunächst den Anschein, dass die Werkskapelle ungestört weitermachen würde, doch haben es sich die slowenischen Sozialdemokraten 1922 anders überlegt und den Eisenbahner-Musikverein "Drava" (heute "Angel Besednjak") gegründet, sein Kapellmeister wurde Anton Skačej. Schönherrs Kapelle machte als selbstständiger Verein und Mitglied des jugoslawischen Verbandes der Arbeiter-Kulturvereine weiter. Max Schönherr starb 1955 in Marburg, wo er auch begraben ist.

Den Höhepunkt der musikalischen Schöpfungskraft in der Familie Schönherr stellt jedoch die dritte Generation dar – Maxens Söhne Wilhelm und Max. Sie hatten das Glück, dass sie in den sensibelsten Jahren Alfred Klietmann in die Hände gekommen sind, einem außerordentlichen Musiker und Pädagogen, der ihnen und noch vielen anderen jungen Talenten in Marburg den Lebensweg bestimmte. Im Jahr 1912 löste er eine Musiksensation aus, als er die 14-jährige Fanny Brandl, den 10-jährigen Wilhelm Schönherr, seinen 9-jährigen Bruder Max und den 7-jährigen Roman Klasinc auf die Konzertbühne brachte. Sie alle haben große Musikkarrieren gemacht.

Wilhelm Schönherr (1902-1975) schloss die Musikakademie bei Joseph Marx in Wien ab und wurde in Graz Doktor des Rechts. Er machte seine Musikkarriere als Cellist und Dirigent in verschiedenen Orchestern und Opernhäusern in Europa und beschloss sie als Professor für Dirigieren an der Akademie in Nürnberg.

Max Schönherr (1903-1984) bereitete mit zusätzlicher Belehrung noch eines exzellenten Marburger Musikpädagogen Hermann Frisch schon als Jugendlicher Orchestrierungen für die Kapelle seines Vaters vor, und er schloss das Grazer Konservatorium als Schüler von Mojsisovics ab. Er hat sich nie endgültig entschieden, ob er Dirigent oder Komponist sein wollte und hinterließ in beiden Bereichen ein enormes Opus. Nach seiner Pensionierung machte er 1973 noch seinen Doktor in Musikologie und verfasste mehrere Bücher, von denen zwei – vermutlich nicht ganz zufällig – den Musikfamilien Strauss und Lanner gewidmet sind.

Max Schönherr, junior (1903-1984), Grunder von Symphonie Orchester ORF

Aus seiner reichhaltigen Musiktätigkeit, die in vielen Monographien beschrieben ist (z. B. Lamb-1992, Hanzlik-2004), werden wir nur so viel erzählen, dass er Mitte der Dreißigerjahre das Radio Symphonie Orchester Wien gegründet hat, mit dem er sich nach dem Anschluss den nationalsozialistischen Repertoire-Anweisungen widersetzte und deshalb zur Zwangsarbeit musste. Er hat auf unterschiedliche Weise jüdischen Musikern geholfen, aus dem Reich zu fliehen. Aufgrund seiner moralischen Haltung und allgemeinen Beliebtheit wurde er 1946 mit der Bearbeitung von Mozarts Melodie zur neuen österreichischen Staatshymne betraut. Er hat über 100 Aufnahmen mit sinfonischer und leichter Musik hinterlassen.

Wir sind uns der Tatsache zu wenig bewusst, dass Marburg eine sehr reiche Musiktradition hat, auf der auch das heutige verzweigte musikalische Leben unserer Stadt aufbaut. Neue und neue Talente, die in die Musikwelt verschiedener Gattungen treten, entstehen nicht aus dem Nichts, sondern haben eine hervorragende Grundlage. Dazu muss auch das musikalische Schaffen der Marburger Deutschen gezählt werden, das überdurchschnittlich war und ein untrennbarer Teil unserer gemeinsamen Kulturgeschichte ist. Die Musikfamilie Schönherr ist verblüffend und erinnerungswürdig.

Franci Pivec

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Redakteur: Jan Schaller
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