CARNERI – DER GRÖSSTE MARBURGER PHILOSOPH

Wieso Carneri?

Bartholomäus von Carneri tauchte ganz unerwartet wieder auf, als ich in den autobiographischen Reflexionen eines der letzten Angehörigen der Frankfurter Schule, Leo Lowenthal blätterte. Dort erzählt er, seine erste ernste Lektüre seien Darwin, Haeckel und der beliebteste Philosoph der darwinistischen Schule Carneri gewesen. Und noch: "Haeckels weltbekannte Welträtsel, Darwins Entstehung der Arten und die populären Standardbücher von Carneri waren für ihn (meinen Vater) und später auch für mich außerordentlich wichtig."

Ich habe wohl schon während meiner Studienzeit von Carneri gehört, wegen Erkundigungen von Irwin Abrams, einem amerikanischen Professor von Antioch und dem größten Kenner der Nobelfriedenspreise, der den ersten Studentenaustausch zwischen den Vereinigten Staaten und Slowenien organisierte. Weil er sich gerade damals mit der österreichisch-ungarischen Friedenspreisträgerin Bertha von Suttner beschäftigte (deren Bildnis übrigens die österreichische 2-Euro-Münze ziert) und die über Carneri auch Verbindungen zu Marburg hatte, hatte Professor Abrams gefragt, ob ich von Carneri überhaupt eine Ahnung habe. Natürlich hatte ich keine. Viel später konnte ich in den Erinnerungen von Bertha von Suttner lesen: "Ich war seit einiger Zeit in Korrespondenz mit dem Philosophen Bartolomäus von Carneri, mit dem sich nach der Lektüre seines "Sittlichkeit und Darwinismus" ein Briefwechsel ergeben hat. Von meinem anonymen Buch hatte ich ihm nichts verraten; desto freudiger überrascht war ich, als ich in der Zeitung Parlamentsbericht eine Rede Carneris fand, die er tags zuvor im österreichischen Reichsrat gehalten und worin er das Buch "Das Maschinenzeitalter" erwähnt hat…. Zu Anfang des nächsten Herbstes waren wir, wie wir das öfters taten, wieder auf ein paar Wochen nach Wien gefahren. In dem Hotel, in welchem wir abgestiegen waren, erfuhren wir, dass der Abgeordnete von Steiermark B. von Carneri, sich im selben Hause befand. Meinen berühmten Korrespondenten kennen zu lernen – diese Aussicht lockte mich lebhaft, und wir ließen uns bei ihm melden. Der Gelehrte trat uns freudig entgegen. Ein alter Mann, ein kranker Mann – beinahe ein Krüppel und doch – welche Heiterkeit und Frische! Carneri war sein Leben lang nicht gesund gewesen – sein Kopf sass immer schief auf die rechte Achsel gedrückt, mit Mühe nur konnte er gehen, und von früher Jugend an hatte er keinen Tag ohne quälende Schmerzen zugebracht. Und er nannte sich einen glücklichen Menschen: er nannte sich nicht nur so, er war es auch. Seine geistige Arbeit, seine politische Tätigkeit, der Besitz einer teuren Tochter und eines teuren Schwiegersohnes, das hohe Ansehen, das er in der Gelehrtenwelt und unter den Parlamentskollegen genoss – das mochten wohl die Grundlagen seiner Lebensfreude sein; aber das eigentliche Geheimnis war wohl dies: er betrieb nicht nur Philosophie – er war wirklich ein Philosoph, d.h. ein Mensch, der sich über die Misere des Lebens hinauszusetzen und dessen Schönheit dankbar zu genießen weiss."

Und nun ist es an der Zeit, zu erwähnen, warum ich über Carneri schreibe: er war ein echter Marburger. Seine Familie stammte zwar aus Trento, wo er am 3. November 1821 geboren wurde. Auf diese Welt kam er mit seiner Zwillingsschwester zusammengewachsen und überlebte nur dank einer schweren Operation, blieb aber behindert. Bald zog die Familie nach Steiermark, eine Ausbildung bekam er beim Onkel in Wien, wo er später auch Philosophie immatrikulierte, doch das Studium wegen einer schweren Gesundheitskrise nicht abschließen konnte. Im „Frühling der Völker“ 1848 kehrte er als Dichter und politischer Kommentator in das Geschehen in Wien zurück. Im Jahre 1851 heiratete er Gräfin Louise von Schärffenberg und ließ sich in Marburg nieder. Im Jahre 1857 kaufte er nach dem Tod von Eduard von Lannoy von dessen Gemahlin (übrigens seiner eigenen Schwester) das Schloss Wildhaus (Viltuš). Weil sich aber im Laufe der Jahre seine Gesundheit noch verschlechterte und er die Aufgaben eines Großgrundbesitzers immer schwerer versah, verkaufte er Wildhaus 1883 wieder in der Absicht, nach Graz umzusiedeln. Aber dort konnte er sich nicht einleben und kehrte 1885 wieder nach Marburg zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1909 bei seiner Tochter lebte, die mit Richard Basso von Gödel-Lannoy verheiratet war. Deren Haus in der Frauengasse 11. steht noch.

Carneri und die Slowenen

Carneri hat als bedeutender Intellektueller zweifellos viele Slowenen interessiert, die mit ihm auch Kontakte pflegten. Wenigstens eine Forschungsrichtung wäre viel versprechend: Carneris "Intimus" war Anastasius Grün (Anton von Auersperg), der auch mit France Prešeren und seinem Kreis verbunden war. Über seine slowenischen Verbindungen hat schon Pater Roman (Tominc) in seiner Münchener Doktorarbeit 1929 geschrieben. Auch die Marburgerin Breda Požar hat vor einem halben Jahrhundert ihre (umstrittene) Doktorarbeit darüber verfasst. Viel dazu werden wir noch durch das Projekt über Anastasius Grün erfahren, das an der Grazer Universität läuft (http://lithes.uni-graz.at/gruenstart2.html) und an dem auch Germanisten aus Marburg teilnehmen.http://lithes.uni-graz.at/gruenstart2.html), kjer sodelujejo tudi mariborski germanisti.

Natürlich nahm Carneri auch am politischen Geschehen in Marburg teil, das in der Doppelmonarchie viel beachtet wurde, es handelte sich ja um die zweitgrößte steirische Stadt mit zunehmend komplizierten Beziehungen zwischen den Deutschen und den Slowenen. Sehr bald erlangte er eine führende Rolle unter den Großgrundbesitzern, die ihn zu ihrem Abgeordneten in Graz und Wien wählten.

Janko Glazer erwähnt Carneri in seiner Forschungsarbeit über die Geschichte des Marburger (slowenischen) Lesevereins als denjenigen, der sich gegen jede Stärkung der slowenischen Autonomie gesträubt habe. Eingehender beschäftigte sich mit Carneris Karriere als Landtagsabgeordneten (1861-1869) und Reichsratsabgeordneten (1870-1899) Janez Cvirn in seiner Doktorarbeit, die später als Buch – "Trdnjavski trikotnik" (Festungsdreieck) – erschienen ist. Den Slowenen besser bekannt ist Carneris Reaktion auf die Rede von Lovro Toman anlässlich der großen Feier beim Jahrestag des Lesesaales 1862. Es soll mehrere Versionen dieses Auftritts geben, in dem Carneri Marburg mit Thermopile verglich und beteuerte, die Slowenen würden lieber sterben als anzuerkennen, dass Marburg eine deutsche Stadt ist. Carneri ist in seiner Reaktion allerdings nicht überheblich als eine Art deutscher Nationalist aufgetreten, sondern entwickelte das Konzept der Parität in den zwischennationalen Beziehungen und erläuterte, dass Marburg nur geographisch gesehen slowenisch sei, eben als Zentrum des slowenischen Hinterlandes, nicht jedoch kulturell, denn in der Stadt herrsche der deutsche Geist völlig vor. Ein Laibacher Korrespondent hat ihn wegen seines „Nachgebens gegenüber den Slowenen“ grob beschimpft, einige andere kommentierten, das alles sei als „Erguss nationaler Gefühle“ zu sehen. Allerdings wurden in Marburg und Umgebung Unterschriften zugunsten von Carneri gesammelt.

Zweifellos ist für Carneri die aus dem „Frankfurter Parlament“ stammende „Großdeutsche Sichtweise“ kennzeichnend. Viel stärker als die Slowenen kritisierte er die „Kleindeutschen“, die Österreich nicht zu den deutschen Ländern zählen. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Carneri damals der slowenischen Nationalfrage, die auch unter den Slowenen erst im Kommen war, mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. In dieser Hinsicht teilte Carneri die damals in Europa sehr verbreitete Ansicht über die historischen Nationen, zu denen die Slowenen eben nicht gehörten.

Übrigens verlor Carneri nach dem Jahre 1870 keine Zeit mehr mit der Politik, insbesondere nicht mit der lokalen Politik. Seine Ansichten über diese sind höchstens seinen philosophischen Konzeptionen zu entnehmen, aber diese Mühe hat sich in Marburg niemand gemacht, weder damals noch später. Obwohl er noch Reichratsabgeordneter blieb, nahm er nicht an den täglichen politischen Auseinandersetzungen teil, außer bei seinem Eintreten für den „Dualismus“ und seinem Auftritt gegen die päpstliche „allocutio" wegen der österreichischen gesetzlichen Festlegung der Ebenbürtigkeit aller Religionen. Und gerade letzteres war ein zusätzlicher Grund dazu, dass ihn das bei den Slowenen vorherrschende katholische Lager verachtete.

Carneri und Marburg

Carneri ist in Marburg am 18. Mai 1909 gestorben. Unter den veröffentlichten Nachrufen möchte ich hier nur den für die Wiener Neue Freie Presse von Marie Eugenie Delle Grazie geschriebenen erwähnen, einer interessanten Banater Deutschen und viel beachteten österreichischen Schriftstellerin aus dem Kreis von Rudolf Steiner (Waldorfschule), in dem Carneri großes Ansehen genoss. Darin heißt es auch: "Zu den schweren Leiden Carneris gesellte sich in seinen hohen Alter noch Blindheit, so dass er, unfähig zum Lessen und schreiben, die Gesänge Dantes frei aus dem Gedächtnis übersetzte und.. diktierte. Die letzten Jahre verbrachte Carneri, oft lange Zeit schlafend, im Rollstuhle … entschlaft Abschied nimmt."

Carneri wurde in Zelnitz bei Marburg bestattet, offensichtlich fühlte sich die Familie noch immer an Wildhaus gebunden. Und so ging im Haus in der Frauengasse ein sehr fruchtbares Wirken zu Ende, das in der weiten Welt viel mehr beachtet wurde als zu Hause. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Im Jahre 1901 wurde er zwar vom Marburger Stadtrat zum Ehrenbürger ernannt, zwei Jahre später bekam er sogar eine Gasse in der Stadt, die in der Umbruchzeit natürlich verschwunden ist. Er geriet in Vergessenheit. Hie und da taucht er in deutschsprachigen Quellen noch auf als Nebenerscheinung in den Analysen von anderen Philosophen, aber viel seltener als seine Zeitgenossen Haeckel, Jodl, Wundt usw., denen er nicht nachsteht, deren Ansehen jedoch von ihrem „Herkunftsumfeld“ gepflegt wird – Universitäten, Heimatorten, Philosophievereinen. Um Carneri kümmert sich niemand. Wenn er in slowenischen Quellen überhaupt erwähnt wird, dann ist das ausschließlich mit dem übertriebenen Groll wegen einer Marginalpolemik, die keineswegs die Bedeutung von Carneri widerspiegeln kann. Schließlich und endlich war er der bekannteste Philosoph in der Geschichte von Marburg. Es würde niemandem schaden, wen die Universität Maribor etwas mehr für seine gerechtere Einordnung in unseren geistigen Raum tun würde.

Franci Pivec

 

 

 

 

 

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